Ich wäre gerne so anders – ich komme nur so selten dazu...

„Ich erinnere mich noch gut, als mir ein Kollege mal sagte: ‚Bei Dir glaubt man ein Ticket für die erste Klasse gebucht zu haben und findet sich dann im Gepäckraum wieder.‘ Das hat zwei Gründe: Zum einen ist meine Überzeugungskraft tatsächlich berühmt berüchtigt – zum anderen habe ich ein Talent die schlechteste Situation als großartig zu verkaufen und nutze das auch. Und hier ist mein Problem: Ich nutze das v.a. in Konfliktsituationen, wenn ich ausweichen will und dann lieber die Dinge schönrede, anstatt die Probleme anzusprechen. Das fühlt sich zunehmend schräg an für mich.“

Zu dieser Erkenntnis kam Michael B., Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens, nachdem er den LINC Personality Profiler gemacht hatte. Ein Ergebnis mit hohem Erkenntnisgewinn war seine Kritikorientierung, die im LINC Personality Profiler so beschrieben ist: „Sie haben kein Problem damit, den Status quo in Frage zu stellen und Sie tendieren stark dazu, bestehende Normen und Wertesysteme kritisch zu betrachten. Auch Hierarchien und Führungspersonen, ob beruflich oder politisch, sparen Sie bei Ihrer Kritik nicht aus. Wenn Ihnen eine Regel als nicht sinnvoll erscheint, kann es durchaus vorkommen, dass Sie diese bewusst missachten.“ Seine spontane Antwort lautete: „Ich fahre locker über eine rote Ampel, wenn ich die nicht als sinnvoll erachte – da habe ich mich auch schon mit einem Polizisten angelegt. Und ich kann den Gepäckraum als erste Klasse verkaufen. Auch wenn man das nicht ‚tut‘. Wenn es mir sinnvoll erscheint, weil ich dadurch z. B. den Konflikt vermeide mit den Leuten darüber diskutieren zu müssen, ob es dort angenehm ist oder nicht – dann tue ich das, um eben nicht diskutieren zu müssen.“

„Ist Ihnen bewusst, dass Sie so handeln? Denken Sie vorher darüber nach?“, frage ich nach.

„Früher wollte ich Probleme einfach nur lösen – hinterher war die Hälfte der Leute sauer. Inzwischen ist es so, dass ich das öfter mal vorher registriere. Nach wie vor lebe ich aber gerne meine Prinzipien und versuche Konflikten auszuweichen. Die sind mir unangenehm.“ 

„Warum?“, will ich von Michael B. wissen.

„Ich bin im Grunde ein sehr harmoniebedürftiger und empathischer Mensch, das zeigt sich ja auch in meinen LPP-Ergebnissen. Seit mir immer bewusster geworden ist, dass ich mit solchen Aktionen Schaden anrichte, versuche ich mich vorher zu bremsen. Das gelingt aber nicht immer.“

„Was könnte der erste hilfreiche Schritt sein?“ – starte ich, ihn hin zu einer Lösung zu bringen.

„Ich könnte es mir regelmäßig bewusst machen.“

„Was noch?“

„Vielleicht meinen GF-Kollegen, mit dem ich gerade viele Projekte gemeinsam mache, um Feedback bitten?“

„Wie genau könnte das aussehen?“, möchte ich wissen, um eine konkrete Umsetzung zu entwickeln.

„Ihn bitten mich zu challengen.“

„Beschreiben Sie eine solche Situation mal in der Realität – wie könnte dieses Challengen im alltäglichen Miteinander aussehen?“

„Ganz einfach – er ‚darf‘ mich auf meine Begeisterungskunst ansprechen, wenn sie ihm auffällt und mich jederzeit challengen! Zum Beispiel mit einem Satz wie: ‚Hab ich gerade wieder ein Ticket für den Gepäckraum gebucht? Kannst Du mir sagen Warum?‘“

Als Grundsatzregel vereinbarte er mit seinem Feedback-Geber, dass er ihm dieses spezielle Feedback ausschließlich unter vier Augen gibt.

Hilfreich war für Michael B. v.a. die Bestätigung und auch gleichzeitig Wiederentdeckung seiner Empathie. Über die vielen Jahre in der Geschäftsleitung hatte er zwar immer wieder bemerkt, dass er im Büro „anders = weniger empathisch wahrgenommen wird“ als zuhause oder auch im Freundeskreis. Er hatte es sich aber nie wirklich bewusst gemacht und schon gar nicht die Ursache erforscht. Es war schlussendlich aber dieses Gefühl der „Inkongruenz“, das ihn zu mir führte. In seinen LPP-Profilergebnissen stand ganz klar: „Am Schicksal Ihrer Mitmenschen nehmen Sie großen Anteil. Sie empfinden die Gefühle und das Schicksal anderer Menschen selbst nach und lassen sich durch dieses Mitfühlen auch in Ihren Handlungen leiten. Sie tendieren klar dazu, menschliche Faktoren tendenziell eher höher zu bewerten als finanzielle oder sachliche Aspekte.“ Genau die Empathie war es, die er im Berufsleben fast gänzlich abgelegt hatte. Stattdessen hatte er sich einen Panzer aufgebaut. Ein neues Verhaltensmuster entwickelt. In der Psychologie nennt man das – eine Persona aufbauen.

Als ihm darüber hinaus im Coaching bewusst wurde, wie sehr er mit seiner kreativ gelebten Kritikorientierung, anderen auf die Füße tritt, überwog das schlechte Gefühl. Der Prozess der Bewusstmachung über den LINC Personality Profiler war somit der Schlüssel zur Lösung! Wie in jedem meiner Executive Coachingprozesse entwickelte Michael B. dann gemeinsam mit mir seinen Actionplan, den er seitdem nachhaltig umsetzt.

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