„Da oben wird die Luft dünn.“

Nach vier Stunden Intensivcoaching schaut mich mein Coachee – Finanzvorstand eines Automobilzulieferers – an und sagt: „Wissen Sie, manche von den Ergebnissen, die wir heute im Coaching entwickelt haben, liegen aus Ihrer Sicht vielleicht auf der Hand. Die Lösungen sind – das sehe ich am Ende des Coachings immer wieder – ‚eigentlich‘ einfach zu finden. Vorausgesetzt man nimmt sich die Zeit und reflektiert. Nur mit wem? Früher habe ich mit meinen Kollegen gesprochen. Heute ist das anders. Mit wem soll ich reden? Da oben wird die Luft dünn.“

Und worüber haben wir geredet? In seinem Precoaching hatte er das erste Thema „vorgegeben“:

„Umgang mit einer gewissen Frustration, bessere Resilienz – starke Belastung in den letzten Wochen.“

„Was genau meinen Sie mit ‚gewisse Frustration‘?“, frage ich ihn.

„Der Firmeneigentümer war in den letzten Wochen schwierig zu ‚managen‘. Es hat sich für mich ungewöhnlich angefühlt, an so einen Punkt zu kommen, an dem ich total gestresst war. Das Gefühl kannte ich so nicht von mir. Viel mehr als bspw. vor vier Jahren – da habe ich ein Haus gebaut, meinen MBA gemacht, zusätzlich drei Direktorenstellen vertreten und war gerade Vorstand geworden. Diesmal war es anders – nicht mal die Wochenenden standen zur Verfügung. Die Themen haben sich geballt. Das Schlimmste jetzt ist der innerliche Ärger gegenüber dem Eigentümer.“

Ich fordere ihn auf: „Erzählen Sie mehr darüber.“

„Einerseits forderte er – entgegen meiner Vorstellung – klar ein, dass ich eine große Life-Präsentation für alle internationalen Kunden noch vor Weihnachten vorbereite und als Moderator umsetze – eine zeitintensive Arbeit. Das einzige Feedback, das ich dann bekam, war eine ‚Nörgelei‘ an einer Grafik. Nun bin ich unsicher: Ist sein ‚nicht äußern‘ vielleicht versteckte Kritik?“

„Was wäre für Sie jetzt hilfreich? Was wäre ein guter Schritt?“

„Ok – während Sie fragen, wird es mir klar. Es ist genau das, was wir schon beim letzten Mal herausgearbeitet haben: Statt den Ärger seit Wochen in mich reinzufressen, muss ich die Situation bei ihm klar ansprechen! Meine Gedanken und Interessen klar kommunizieren. Ich fühle mich letztendlich nicht wertgeschätzt. Das tut weh. Statt in der Opferrolle zu verharren, muss ich auch meine Gefühle kommunizieren. Verstanden!“

Das war ein großer Coachingerfolg, dass er bereits mit der ersten Frage die Lösung parat hatte, die wir beim letzten Mal nach einem intensiven Coachingprozess herausgearbeitet hatten.

„Perfekt. Was könnte ein nächster Schritt sein? Was können Sie beim nächsten Mal anders machen? Wie können Sie reagieren – bevor ‚das Kind in den Brunnen gefallen ist‘?“

Während er nachdenkt, sagt er laut vor sich hin – in einem sehr bestimmten, klaren Ton: „Aus meiner Sicht sprach alles dafür, die Präsentation erst im Februar zu machen. Meine Argumente waren definitiv überzeugend.“

„Haben Sie das genauso auch an Ihren Vorgesetzten kommuniziert? In diesem Ton? Mit dieser Klarheit und inneren Haltung? In diesem state?“, will ich von ihm wissen.

Exkurs: Unter state versteht man die Summe aller neurologischen, emotionalen Prozesse, die zu irgendeiner Zeit in einem Menschen entstehen. Oder einfach ausgedrückt – ein emotionaler state ist die Stimmung, in der Sie sind, in jedem einzelnen Moment. Der emotionale state ist das, was Menschen bewegt. Der state, indem wir sind, betrifft nicht nur die Tatsache, wie wir uns fühlen. Er bestimmt ebenso unser Verhalten und unsere Fähigkeit, erfolgreich bzw. überzeugend zu handeln. Wer die Fähigkeit besitzt, den eigenen state zu verändern, kann machtvoll und unabhängig auch mit Krisensituationen umgehen.

„Wiederholen Sie dieses Statement nochmal,“ bitte ich ihn.

Er wiederholt sein Statement mehrfach – überzeugend – und spürt, dass sein state jetzt klarer wirkt. Seine Stimme, Haltung und sein Mindset konsequenter – anders als seine ursprüngliche Reaktion.

Sein Learning:

Bevor er das nächste Mal in ein für ihn kritisches Gespräch geht, macht er sich das Ziel klar und trainiert seinen state: Seine Stimme, seine Haltung, sein Mindset und den Inhalt. Ich empfehle ihm, sich beispielsweise von einem Freund challengen zu lassen. Ein Rollenspiel zu machen, bei dem der Freund in die Rolle des Chefs schlüpft und ihn herausfordert. Und dann heißt es: Üben, üben, üben, wiederholen, wiederholen, wiederholen – bis der neue state zum authentischen ‚habit‘ wird!

„Dass wir den Prozess noch einmal so klar und lösungsorientiert analysiert haben und vor allem die Aussicht, dass ich beim nächsten Mal besser performe, nimmt mir meinen Ärger und minimiert die Frustration, die sich nahezu aufgelöst haben! Super Coachingergebnis!“