Wenn Leidenschaft zur Last wird …

New York. Investment Forum 2021. Der Keynotspeaker – ein „hochdekorierter“, international renommierter Top-Leader – hält seine Rede mit Leidenschaft. Anschließend stehen die Leute Schlange – jeder will mit ihm reden. Jedem Gesprächspartner widmet er sich mit unglaublicher Zugewandtheit – sichtbare Empathie. Beim Dinner „verwickelt“ er mich in ein Gespräch. Ganz schnell geht es um ihn, um seine Gesundheit, das rasante Leben, seine Erfolge und um seine OP ein paar Tage später.

„Wenn der Druck zu viel wird“, fasse ich zusammen und – ich gebe zu - begehe den größten Anfängerfehler, den ein Coach machen kann! Interpretiere niemals etwas in eine Aussage deines Klienten hinein, das der Klient selbst nicht gesagt hat. Erste Stunde Coachingausbildung. Seine Antwort überraschte mich: „Nein, es ist nicht der Druck. Es ist meine Leidenschaft, die zur Last geworden ist! Sie ist wie eine Sucht. Ich kann einfach nicht aufhören. Denn aufgrund meiner außerordentlichen Möglichkeiten kann ich soviel bewegen. Gemessen daran ist meine Lebenszeit doch viel zu kurz. Gleichzeitig ist Arbeiten für mich aber auch ein Produktivitätsindikator. Ich werde schließlich an meinen Erfolgen gemessen“, sprudelt es aus ihm heraus.

„Was genau meinen Sie mit Produktivitätsindikator“, frage ich vorsichtig auf der „formalen“ Ebene nach, um erstmal eine Vertrauensebene herzustellen und nicht gleich zu tief auf persönlicher Ebene einzusteigen.

Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen

„Ich habe das Gefühl, nur dann produktiv sein zu können, wenn ich voll beschäftigt bin, mehrere Projekte parallel laufen, Termine auf mehreren Kommunikationskanälen (E-Mail, Zoom, Teams etc.) gleichzeitig stattfinden und ich von einer Besprechung oder einem Call zum nächsten renne. Am Ende des Tages frage ich mich dann schon, wohin mich meine Leidenschaft so führt. Und was ich eigentlich erreicht habe.“

„Und das schafft Leiden?“, frage ich jetzt schon etwas mutiger.

„Ja!“ Pause. Er atmet tief durch und strahlt dabei über das ganze Gesicht. „Ja – Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber es ist kein Leiden, es ist die Leidenschaft, die mir zu schaffen macht. Klingt jetzt irgendwie schräg, aber es trifft es. Und mir ist schon klar, dass ich so nicht weitermachen kann. Die anstehende OP ist notwendig, weil ich zu viel Stress habe.“

„Was wäre eine Sache, die Sie gerne nach der OP anders machen würden?“ Meine Fragen wähle ich sehr vorsichtig. Ich habe ja keinen „Coachingauftrag“.

„Haben Sie eine Idee für mich?“ fragt er zurück.

Dart spielen mit verbundenen Augen

„Nun, ich könnte Ihnen jetzt eine lange Liste aufzählen, was hilfreich sein könnte. Das ist dann wie beim Dart spielen mit verbundenen Augen. Es geht ja um die Frage, was Sie gerne anders machen möchten und nicht darum, welche Ideen ich hätte. Einen Impuls hätte ich dennoch für Sie: Was halten Sie davon, der Leidenschaft einen neuen Namen zu geben? Der Enthusiasmus ist beispielsweise eine prägende Charaktereigenschaft und ich könnte mir gut vorstellen, dass sie in Ihrem Charakterprofil (Ich berichte ihm in dem Zusammenhang vom LINC Personality Profiler) eine große Rolle spielt. Menschen mit einer hohen Enthusiasmus-Ausprägung lassen sich schnell begeistern und teilen diese Begeisterung auch aktiv mit anderen.“

„Oh ja, das stimmt, absolut. Ich bin sehr schnell begeisterungsfähig und teile meine Begeisterung auch sehr gerne mit anderen Menschen. Nur was bringt mir das? Ob ich jetzt Leidenschaft oder Enthusiasmus sage?“

Spüren – was ist das?

„Zunächst sendet das Wort ‚Leidenschaft‘ eine klare Botschaft an Ihr Unterbewusstsein. Es schafft Leiden - so haben Sie es eben auch spontan erzählt. Enthusiasmus dagegen ist zunächst einmal neutral und kann Sie dabei unterstützen, einen positiven turnaround zu starten. Weg von der Leidenschaft hin zu…? Das ‚hin-zu‘ müssen Sie selbst definieren. Dazu sollten Sie erstmal in sich hinein spüren, die Lösung finden und dann mit Enthusiasmus umsetzen.“

Ich sah an seinem Gesichtsausdruck, wie mein Gegenüber – sagen wir Tom R. – beim Wort „spüren“ fast schon stutzte und versuchte, meinen Worten zu folgen. Sein Blick auf seine leistungsorientierte Welt war jahrzehntelang geprägt von logischen und rationalen Überlegungen – „hinein spüren“ klang in dem Konzert der täglichen Leistungsorientierung wie ein Fremdwort.

Um wirklich herauszufinden, wie es gelingen kann, schädigende Muster abzulegen, braucht es unter anderem die Entdeckung und Bewusstmachung der eigenen Charaktereigenschaften. Nur so gelingt es, die eigene Persönlichkeit zu verstehen, neue Muster zu entwickeln und dann zu etablieren. Eine tiefgehende Analyse der Charaktereigenschaften, Motive und Kompetenzen ermöglicht z.B. der LINC Personality Profiler, den ich in meinem Excellence-Programm einsetze. Zugegeben – es ist leichter die eigenen ‚Meriten‘ aufzuzählen (Stichwort: Hochdekoriert) – als das Spotlight auf die eigene Persönlichkeit zu richten. Das kann auch schon mal unbequem werden.

Lust statt Last

„Was halten Sie von einem Perspektivenwechsel?“ hake ich nach.

„Wie könnte der aussehen?“, will Tom R. wissen.

„Gehen Sie auf Erkundungstour zu Ihrem Selbst. Fragen Sie sich: Unabhängig von dem, was ich bisher erreicht habe. Was schafft Leiden? Was gibt mir Kraft? Und schlussendlich: Wie könnte aus der Last wieder eine Lust werden? Welche meiner Charaktereigenschaften unterstützen mich dabei? Was motiviert mich wirklich?“

Wer sich selbst und sein Handeln hinterfragt, seine Charaktereigenschaften, Motive und Kompetenzen bewusst macht, erkennt neue Wahlmöglichkeiten und kommt der Selbstbestimmung ein ganzes Stück näher. Statt ‚ferngesteuert‘ durchs Leben zu hasten – entsteht so die Möglichkeit, mit Bewusstheit den selbst gesetzten Zielen zu folgen.

Das Gespräch mit Tom R. wurde übrigens unsanft unterbrochen von einem der vielen wartenden Menschen, die an dem Abend mit ihm reden wollten. Am nächsten Tag hatte ich schon eine Anfrage zu einem Call in meinem Postfach: „Wann haben Sie Zeit, Frau Segschneider? Sobald ich aus dem Krankenhaus zurück bin, möchte ich mit Ihnen über meinen Enthusiasmus reden.“ Kurze Zeit später startete er das einjährige „Excellence Programm“.