Wenn der Druck zu viel wird: Rasten Sie aus oder bleiben Sie ruhig?

Wer klar und deutlich seine Emotionen – also z.B. auch den eigenen Unmut über eine Situation – anspricht, bringt Klarheit und Transparenz in die Kommunikation. Nimmt dadurch übrigens auch Druck aus dem Kessel und vermeidet Stress. Ein Fallbeispiel.

 

Zu welcher Spezies gehören Sie? Sind Sie ein souveräner Menschentyp oder einer, der auch mal ausrastet? Wir alle haben unzählige Begegnungen am Tag und in jedem Moment entscheiden wir – i.d.R. unbewusst – wie wir reagieren. Ist es eine angenehme Begegnung, fällt die Reaktion leicht und wir punkten mit Sympathie, zeigen eine souveräne Reaktion. Fühlen wir uns dagegen angegriffen, z.B. weil wir uns nicht gesehen oder gehört fühlen, weil uns jemand verletzt hat – dann feuert unbewusst unser Angstsystem und wir schalten auf Angriff. Das kostet Kraft und wir wünschen uns, entspannter zu reagieren. Schließlich wollen wir gemocht werden. Doch wie? Wie bleibt man souverän und entspannt, wenn sich die Projekte auf dem Schreibtisch stapeln, die ToDo-Liste noch länger ist, als je zuvor, zuhause (oder im Home-office-Hintergrund) „die Bude brennt“, der Schlaf zu kurz kommt? Drucksituationen sind allgegenwärtig. In einer Keynote habe ich die Teilnehmer gefragt: Was macht Ihnen Druck? In Sekundenschnelle wuchs die „Word-Cloud“. Die Themenvielfalt war groß: Zeitdruck, unklare Verantwortlichkeit, hidden agenda, Angriffe, überzogene Erwartungen, fehlende Perspektive, emotionale Erpressung, Zeitmangel, Erfolgsdruck, Ablehnung u.v.m.

Mein erster Gedanke: Was geschieht mit den Themen, die die Teilnehmer bewegen? Sprechen sie die Themen an oder ertragen sie, was passiert, und klagen?

Wenn die Wahrheit unter den Tisch gekehrt wird

 

Viel zu oft kehren wir Themen, die uns Druck machen, unter den Tisch und sprechen Wahrheiten nicht aus. Wenn sich dann die Themen häufen und der Druck zunimmt, gelingt es vielen Menschen immer weniger souverän zu agieren. Sie rasten aus.

Das erinnert mich an ein Executive Coaching mit einem GF, der in seinem 360 Grad Feedback von den Mitarbeitern gespiegelt bekam, dass er gerade in Meetings häufig ausrastet, ungerecht reagiert, kurz angebunden ist – kurzum: Ein Chef der „old school“. Im Coaching gingen wir auf Spurensuche und wurden schnell fündig. Hier ein Beispiel aus seiner Meetingpraxis, das stellvertretend aufzeigt, wie wichtig es ist, Themen anzusprechen, statt sie unter den Tisch zu kehren:

Sein Mitarbeiter, nennen wir in Hermann J., nervte ihn schon seit geraumer Zeit. In nahezu jedem Jour Fix auf Zoom schaute er immer wieder auf sein Handy und beantwortete Nachrichten. Darüber hinaus kam er häufig zu spät in die Calls. Mein Klient war genervt. Bei nächstbester Gelegenheit entlud sich, was er lange nicht angesprochen hatte: Es kam zu  einem Ausraster. Das gipfelte dann in vollkommener Ignoranz Hermann J. gegenüber. Als der einen Beitrag leisten wollte, hörte der GF ihm gar nicht richtig zu – wie er später reflektierte – sondern würgte ihn gleich ab.

Im Coaching visualisierten wir, was in seinem Kopf vorgeht. Welche Gedanken in seinem Gehirn „feuern“, wenn der Mitarbeiter zu spät kommt bzw. an seinem Handy daddelt. Wir nahmen uns viel Zeit und deckten Schicht für Schicht die Gedankenmuster auf: „Der kommt sowieso immer zu spät und  hört mir nicht zu. Das ist respektlos“, waren die ersten Gedanken. Auf meine wiederholte Nachfrage: „Was macht das mit IHNEN?“, wechselte er vom „fingerpointing“ – „Der kommt zu spät“ – hin zu sich selbst und fand heraus: „Ich bin offensichtlich langweilig für ihn und habe das Gefühl, dass er mich nicht respektiert.“ Was war passiert? Hinter seinem Ausraster steckte die bloße Angst, von seinem Mitarbeiter nicht anerkannt zu werden. Der GF war verletzt, weil Hermann J. in den meisten Meetings unaufmerksam war, zu spät kam. Der GF fühlte sich nicht respektiert und das machte ihm zu schaffen. Ich fragte nach: „Haben Sie mit Hermann J. mal das Gespräch gesucht? Wie würde er die Situation schildern? Kennen Sie seine Story?“

Wenn jemand zu spät kommt oder unaufmerksam ist, kennen wir zunächst seine Story nicht. Trotzdem fällen wir unser Urteil und sprechen das, was uns stört, nicht an. Das wirkt wie ein dreifacher Booster für Ausraster. Statt zum Beispiel zu sagen: „Hey, es ist mir total wichtig, dass wir pünktlich anfangen. Mir ist Pünktlichkeit total wichtig. Du bist mal wieder sieben Minuten zu spät. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“ ärgerte sich der GF seit Wochen über das Verhalten von Hermann J. Hinzu kommt, dass er den Hintergrund für das Zuspätkommen – die Story des Hermann J. – nicht kennt. Gibt es einen aktuellen Grund – z.B. ein dringendes Projekt, private Probleme oder ähnliches – warum der Mitarbeiter scheinbar unaufmerksam ist?

Mut verändert alles

 

Im Executive Coaching lernte der GF wie wichtig und effektiv es ist, den Mut zu haben und sich Zeit zu nehmen, störende Situationen direkt anzusprechen. Leadership braucht den Mut, Verletzlichkeit zu zeigen und nicht jeder hat den Mut dazu. Das fängt bei so scheinbar kleinen Situationen wie in diesem Beispiel des GFs an. Im Coaching entwickelte er Antwortoptionen, die auch Verletzlichkeit zeigen: „Ich habe oft das Gefühl, dass Du mir in Meetings nicht zuhörst. Ich sehe nur, dass Du immer an Deinem Phone hängst. Das bringt mich auf die Palme. Mir ist Fokussierung im Meeting wichtig. Deshalb bitte ich Dich, dass Du Dein Handy im Meeting ausgeschaltet lässt. Einzige Ausnahme – es gibt einen relevanten Grund. Das können wir gerne im Einzelfall entsprechend verabreden.“ Oder: „Grundsätzlich möchte ich Meetings, wo wir alle komplett fokussiert sind – ich weiß im Moment nicht genau, wie das gelingen kann. Was ist Dein Vorschlag?“ Oder: „Es reizt mich jedes Mal, wenn Du an Deinem Handy daddelst und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“ Ehrlichkeit und Verletzlichkeit zu zeigen und souverän zu kommunizieren – das ist Stärke. Wer mit sich im Reinen ist, kann diese Stärke zeigen. Im Executive Coaching begleite ich meine Klienten auf diesem Weg und trainiere mit ihnen diese Stärke wie einen Muskel. Der positive Side-Effekt ist, dass sie mit Druck viel besser umgehen lernen. Gerade im Berufsleben ist es oft noch unüblich, seine Gefühle in Worte zu fassen und wird oft als „soft“ verkannt. Das Gegenteil ist der Fall: Wer klar und deutlich seine Emotionen – also z.B. auch den eigenen Unmut über eine Situation – anspricht, bringt Klarheit und Transparenz in die Kommunikation. Nimmt dadurch übrigens auch Druck aus dem Kessel, was sehr empathisch ist. Viele Studien belegen zudem, dass, wenn man Emotionen anspricht, sie automatisch weniger werden.