Wenn das Moral-Konto voll ist

Immer wieder fragen mich Vorstände/Firmeninhaber – wieso es in ihrem Unternehmen ungeachtet aller Compliance-Schulungen immer wieder zu Compliance-Verstößen kommt. Ein aktueller Fall, der mich gerade in einem Coaching beschäftigt, bezieht sich auf den bis dahin sehr erfolgreichen Sales-Direktor eines Autozulieferers, der während der Corona-Zeit ein Compliance-Vergehen begangen hat, das das Unternehmen jetzt vor rechtliche Probleme stellt. Der Direktor war bislang hoch angesehen – ein „Arbeitstier“ – 70-Stunden-Wochen waren die Regel. Das ist der Hintergrund, den ich zunächst mit meinem Klienten austausche:

In meinem Buch „Balanceakt Compliance“ habe ich mich intensiv mit den Ursachen von nicht-complianten Verhalten beschäftigt. Dan Ariely ist hier einer der führenden Wissenschaftler weltweit, der zahlreiche Studien zum Thema „Betrug und Unehrlichkeit“ durchgeführt hat. Seine zentrale Frage war: „Wo hat betrügerisches Verhalten seine Wurzeln?“ Sein Interesse für das Thema hatte er wenige Monate nach dem Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron im Jahr 2001 entdeckt. Die wesentliche Ursache des Niedergangs von Enron lag darin, dass vom Vorstand bis zum Berater inklusive der inzwischen pleitegegangenen Wirtschaftsprüfungsfirma Arthur Andersen alle systematisch vor betrügerischen Machenschaften die Augen verschlossen hatten. Im Gespräch mit einem Berater erfuhr Dan Ariely, dass dieser sicher war, nichts von den Betrügereien bemerkt zu haben. Als die Sache dann aufgedeckt wurde, konnte der Berater kaum fassen, dass er lange Zeit die offensichtlichen Entwicklungen systematisch ausgeblendet hatte.

Wer allerdings nun glaubt, dass wir mit diesem Beispiel des systematischen Ausblendens krimineller Machenschaften im Fall Enron bereits die Spitze des Eisbergs erreicht haben, der irrt. Denn nicht selten nehmen wir, wenn unser Wille aufgrund einer hohen Entscheidungsdichte erschöpft ist, auch gänzlich irrationale Abkürzungen – wie folgendes Beispiel eindrucksvoll demonstriert:

Nordosten der USA. Etwa 22.00 Uhr. Der Gouverneur surft nach einem anstrengenden Arbeitstag im Internet. Per Zufall oder auch nicht landet er auf der Seite eines internationalen Escort-Services für höchste Ansprüche. Der Club verspricht: „Es ist unser Ziel, Ihr Leben friedlicher, ausgeglichener, schöner und sinnvoller zu gestalten.“ Zur Erfüllung der Wünsche präsentiert der Club Fotos von hübschen, jungen Frauen, die ihm gegen eine Vermittlungsgebühr jederzeit für gemeinsame Freizeitaktivitäten zur Verfügung stehen. Der Gouverneur hat die Wahl: Website und Büro verlassen und nach Hause fahren oder auf eines der Angebote eingehen.
 

Was glauben Sie, wie er sich entschieden hat?

Nein, hier ist nicht die Rede von einem x-beliebigen oder gar erfundenen Politiker: Es geht um Eliot Spitzer, dem ehemaligen Gouverneur von New York. Als er 2006 für das Amt kandidierte, hatte es der smarte Jurist bereits zum Generalstaatsanwalt gebracht und gewann die Wahl zum Gouverneur schließlich mit dem höchsten Prozentsatz in der Geschichte des Bundesstaates. Ein Hoffnungsträger also, dem seine Wähler und Förderer auch das Präsidentenamt zutrauten – er wäre der erste jüdische Präsident der USA geworden.

Das Paradoxe an dem, was dann passierte: Eliot Spitzer trat selbst stets als ein erklärter Gegner von Internet-Prostitution auf, er zerschlug Zuhälterringe und zog die Verantwortlichen zur Rechenschaft, was ihm insbesondere bei Frauen- und Menschenrechtlern/-innen Sympathiepunkte einbrachte. Und dann das: Während eines Aufenthalts in Washington bestellt er sich als „Client 9“ eine junge Frau zu sich ins Hotelzimmer.

Nicht nur seine Anhänger stellten sich daraufhin die Frage: Warum trifft ein als Saubermann gefeierter Politiker – der zudem auch noch Ehemann und Vater ist – eine solch selbstzerstörerische Entscheidung?
 

„Moral Licensing“ heißt das Schlüsselwort

Der Grund ist auch bei ihm u. a. in der neurophysiologisch bedingten Entscheidungsmüdigkeit zu suchen. Treffen kann sie jeden, den Politiker genauso wie die Managerin, die ganz normale Führungskraft wie auch den Vorstand, unabhängig vom Geschlecht, der sozialen Stellung oder beruflichen Verantwortung. Denn letztendlich steckt hinter jedem Compliance-Vergehen auch eine bewusste Entscheidung, die u. a. psychologische Hintergründe hat.

„Moral Licensing“ ist hier das Schlüsselwort. Dahinter verbirgt sich das psychologische Phänomen, dass jeder Mensch eine Art „Moral-Konto“ hat. Darauf wird mental eingezahlt, wenn gute Taten vollbracht werden, und abgehoben, wenn es schlechte sind. Auf diese Weise kann man sich nach einer inneren Bilanz von Schuldgefühlen innerlich freikaufen, da sich die Taten gegenseitig aufwiegen. Erst wenn das Konto nicht mehr ausgeglichen ist bzw. unter null fällt, bekommt man Schuldgefühle.

Das Moral Licensing wird vom Unterbewusstsein gemanagt. Top-Manager, die irgendwann die Bodenhaftung verloren haben und dann Compliance-Skandale verursachten, unterlagen häufig diesem Phänomen. Sie zeigen sich deshalb oft auch nicht wirklich schuldbewusst, weil sie in ihrem Innersten gar kein Fehlverhalten verspüren. Ähnlich erging es wohl Eliot Spitzer, der in seiner Eigenschaft als Gouverneur so intensiv gegen Prostitution vorgegangen ist, dass er überzeugt davon war, sich als Privatmann ruhig ein paar Freiheiten herausnehmen zu können. Legt man den Ansatz des Moral-Liscening zugrunde, könnte man sagen: Der Staatsanwalt landete in den Armen einer Prostituierten nicht obwohl, sondern gerade weil er selbst so vehement dazu beigetragen hatte, solch unmoralische Verhaltensweisen einzudämmen. Sein Moral-Konto war in seiner Wahrnehmung aufgefüllt.

Auch wenn, wie im Falle Spitzer, die Paradoxie dahinter klar zu erkennen ist und ein solches Verhalten als charakterlos gewertet wird, so ist es ein Fakt, dass Moral-Liscening ein unbewusster Prozess ist, der tatsächlich in manchen Fällen mit einem gewissen Realitätsverlust einhergeht. Begünstigt wird ein solcher Realitätsverlust durch die heutigen Karrierewege. Noch immer gehen viele Topmanager durch einen Auswahlprozess, der sie in dem Glauben bestärkt, dass sie die Größten sind. 60 und mehr Stundenwochen führen dann dazu, dass das Moral-Konto – gefühlt – bis zum Anschlag voll ist. Man „opfert ja sein Leben“ für das Unternehmen und den (persönlichen) Erfolg.

Im Falle meines aktuellen Klienten führte diese Einsicht dazu, die bestehenden Compliance-Schulungen in seinem Unternehmen zu überarbeiten mit dem Fokus auf den Mensch und seine Psyche. Bislang waren die Schulungen – wie bei den meisten Unternehmen – rein formal ausgerichtet. Der psychologische Hintergrund fand nicht statt. Im Mittelpunkt von Compliancevergehen steht aber immer der Mensch und nicht die Form. Und das, obwohl die faszinierenden psychologischen Phänomene, bei etwas intensiverer Reflexion den meisten Unternehmern und Führungskräften aus ihrer beruflichen Alltagspraxis nur allzu gut bekannt sind.

Der Texte entstammten zu großen Teilen aus dem Buch „Balanceakt Compliance“, Dorette Segschneider und Dr. Kathrin Niewiarra, FAZbuch, 2016.

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