Vom Dorfladen zum Konferenztisch

Wie jonglieren Sie mit zwei Bällen, wenn beide gleich wichtig sind? Willkommen in der Welt meiner Klientin Brigitte und ihrer HR-Geschäftsführerin Louisa. Brigitte ist Eigentümerin eines Start-up Medizintechnik-Unternehmens und verantwortlich für 350 Mitarbeiter. Als HR-Geschäftsführerin hat Louisa im Unternehmen eine zentrale Rolle. Privat spielt sie eine Schlüsselrolle in einem ganz anderen Theater – dem Dorfladen ihrer Eltern in der Eifel.

Brigitte hatte ein Coaching angefragt, weil die Doppelbelastung von Louisa zunehmend negative Auswirkungen auf deren Arbeit im Unternehmen hat. Eine der wichtigsten Geschäftsführersitzungen des Jahres – eine Strategie-Sitzung, die die Richtung ihres Unternehmens für das nächste Jahr bestimmt – hatte Louisa abgesagt. Der Grund: Zur selben Zeit muss sie den Dorfladen ihrer Eltern betreuen.

„Schon seit langem beobachte ich, dass Louisa überfordert wirkt. Sie zieht sich in Meetings zurück, ihre inhaltlichen Beiträge werden immer seltener. Gleichzeitig klammert sie sich an bestehende Verantwortungsbereiche. Statt zu delegieren, kümmert sie sich um jedes Detail und statt ihre direct reports zu reduzieren, hält sie fest an dem viel zu großen Team“, legt Brigitte mir das Problem offen.

Eine einsame Insel

„Wie genau führen Sie Louisa in dieser für Sie herausfordernden Situation?“, will ich von meiner Klientin wissen. Ganz in ihrem Element – voller Empathie und Hilfsbereitschaft – antwortet Brigitte: „Ich versuche ihr zu helfen, sie zu unterstützen, wo ich nur kann. Aber sie ist beratungsresistent. Wenn ich das mal salopp ausdrücken darf: Manchmal denke ich, dass sie auf einer einsamen Insel namens ‚Ich kann das alleine‘ gestrandet ist.“

„Wie genau führen Sie Ihre Louisa?“, frage ich nach. „Ich habe ihr bereits viele Lösungen angeboten. Unter anderem habe ich ihr empfohlen, dass sie einen fest angestellten, leitenden Verkäufer in den Laden einstellt, der ihre Eltern langfristig entlastet. Finanziell ist das für sie kein Problem. Sie verdient in ihrem eigentlichen Beruf als Geschäftsführerin sehr gut. Ich mache mir wirklich viele Gedanken“, führt Brigitte weiter aus.

Im Coaching arbeiten wir dann zunächst den Unterschied zwischen Führung und Unterstützung heraus. Aus dem Big Five-Profil von Brigitte wissen wir, dass sie sehr empathisch ist, verbunden mit einer hohen Dominanz. Die Folge: Sie nimmt am Schicksal ihrer Mitmenschen großen Anteil. Sie empfindet die Gefühle und das Schicksal anderer Menschen selbst nach und lässt sich durch dieses Mitfühlen auch in ihren Handlungen leiten. Sie tendiert klar dazu, menschliche Faktoren tendenziell eher höher zu bewerten als finanzielle oder sachliche Aspekte. In Situationen mit anderen Menschen ist sie aufgrund ihrer hohen Dominanz zudem sehr bestrebt, eine tragende Rolle einzunehmen und sich durchzusetzen. Daher übernimmt sie fast automatisch irgendwann die Führung, da sie den starken Wunsch hat, soziale Situationen aktiv zu beeinflussen. Außerdem fühlt sie sich mitverantwortlich am Schicksal ihrer Geschäftsführerin, mit der sie auch eine Freundschaft verbindet. Sie läuft so Gefahr, ‚co-abhängig‘ zu werden. Co-Abhängigkeit entsteht, wenn die Probleme einer Person so eng mit dem eigenen emotionalen Wohlbefinden verknüpft sind, dass man versucht, die Probleme des anderen zu lösen. Zum Beispiel, indem sie Zugeständnisse macht, um Louisa zu helfen, oder sich ‚ständig‘ um Louisas Belastung sorgt.

Fragen führen

Was also tun, wenn sie sich als Führungskraft in einer solchen Situation befinden? Nachdem wir die Situation ausführlich beleuchtet haben, spreche ich mit Brigitte über mögliche Lösungsansätze:

1. Im ersten Schritt geht es darum, eine klare Linie zwischen den Themen zu ziehen, die ausschließlich Louisas Privatleben betreffen, und jenen Themen, die Louisas Verhalten in der Firma betreffen. Es geht darum, Klarheit zu schaffen und gesunde Grenzen zu setzen

2. Führen über Fragen, z.B. im Feedbackgespräch FRAGEN stellen und Louisa damit weiterentwickeln:

- Lass uns mal zusammen überlegen, was wäre die beste/klarste Lösung?
- Was noch?
- Wie genau könnte die Umsetzung aussehen?  --> Verbindlichkeit schaffen/einfordern
- Gibt es eine 'Sache' mit der du starten könntest?

--> Ziel: Louisa mit Fragen weiterentwickeln, statt sie zu bemuttern

3. Reduzierung der direct reports einfordern: Die Bedeutung von Delegation als wesentlichen Bestandteil von Führung klar machen. Louisa muss lernen, ihre Mitarbeiter zu befähigen und so Zeit z.B. für strategische Entscheidungen freisetzen. Dahinter steht die Kunst des Delegierens. Das ist wie das Teilen einer riesigen Torte: Man behält nicht alles für sich, sondern gibt auch anderen ein Stück ab. Damit macht man nicht nur den Teller der anderen voll, sondern bekommt auch mehr Raum, um sich um die wichtigen Dinge zu kümmern.

4. Brigitte muss lernen, Vertrauen zu entwickeln in Louisas Fähigkeit, ihre eigenen Probleme zu bewältigen und das Steuer selbst in die Hand zu nehmen. Es liegt an ihr, die angebotene Unterstützung zu nutzen und Veränderungen umzusetzen. Und während Brigitte immer da ist, um zu helfen, muss sie auch lernen darauf zu vertrauen, dass Louisa ihre eigenen Herausforderungen bewältigen kann.

Den Spagat lernen

Für Brigitte war es eine sehr erkenntnisreiche Sitzung, wie sie mir in ihrem Feedback schrieb: „Das ist für mich eine große Herausforderung bei der Führung: Ich muss da sein, um zu unterstützen, aber kann die Probleme nicht für jemand anderen lösen. Das ist eine wichtige und hilfreiche Erkenntnis und fällt mir gleichzeitig so schwer. Mein eye-opener war, dass meine hohe Dominanz verbunden mit meiner Empathie dazu führt, dass ich soziale – lassen Sie mich sagen in dem Falle private – Situationen gerne beeinflusse. Das ist absolut richtig und war mir bisher nicht so bewusst. Das neue Bewusstsein hilft mir sehr, denn jetzt weiß ich, was ich ändern muss. Genau wie Louisa versucht, ihre beiden Bälle in der Luft zu halten, muss auch ich lernen, meine Rolle als empathische Führungskraft auszubalancieren und Grenzen setzen – für Louisa und für mich selbst. Das ist ganz klar ein Spagat – aber ein Spagat, den ich lernen kann zu bewältigen.“

Die Moral der Geschichte? Es ist wichtig, empathisch und unterstützend zu sein, aber ohne in die Falle der Co-Abhängigkeit zu tappen. Als Führungskraft besteht die Aufgabe darin, Unterstützung anzubieten, aber auch darauf zu vertrauen, dass die Teammitglieder in der Lage sind, ihre eigenen Probleme zu lösen. Ein Balanceakt, der manchmal eine echte Herausforderung sein kann.

Gern unterstütze ich Sie bei dieser Herausforderung. Kontaktieren Sie mich jederzeit mit Ihrem Anliegen.