Max Eberl wirkt – Verletzlichkeit macht stark!

Max wer? … hätten wahrscheinlich viele „Nicht-Gladbach-Fans“ noch vor kurzem gefragt. Max Eberl – na klar, den kenne ich, wäre wahrscheinlich jetzt die Reaktion – nach dem emotionalen Rücktritt von Max Eberl, ehemaliger Sportchef von Borussia Mönchengladbach. Sein Mut, vor laufenden Kameras seine Verletzlichkeit zuzugeben und mit der ganzen Welt zu teilen, ist außergewöhnlich und wichtig! Denn anders als viele Menschen denken, ist es nicht der Perfektionismus, der uns zu Exzellenz führt, sondern die Verletzlichkeit.

Perfektionismus führt vor allem dazu, dass wir das, was andere denken, für wichtiger halten als das, was wir selbst denken oder empfinden. Dass wir Verletzlichkeit als Schwäche fehlinterpretieren und ablehnen, wird uns klar, sobald wir erkennen, dass wir Fühlen mit Versagen und Emotionen mit Schuldverhältnissen verwechselt haben. Wenn wir wesentliche Emotionen wieder zulassen und Leidenschaft sowie ein Gefühl von Sinnhaftigkeit initiieren wollen, müssen wir lernen, zu unserer Verletzlichkeit zu stehen und uns auf sie einzulassen mitsamt den Emotionen, die damit einhergehen. Wer sich gegen Verletzlichkeit abschottet, schottet sich auch gegen Chancen ab. Was wir wissen ist wichtig – doch wer wir sind ist wesentlich wichtiger – mehr zu sein als zu wissen – das ist der Beginn von Exzellenz.

Frau, Vorstand und heulen?

Meine Klientin, Vorstand in einem mittelständischen Unternehmen, hatte ihren Intensivtag kurz nach dem Auftritt von Max Eberl. Sie wollte genau mit dem Thema in den Tag starten: „Ich bewundere ihn und seinen Mut. Die Stärke möchte ich auch entwickeln – einfach zu sagen, wie es im Moment ist. Ich bin erschöpft. Ich bin müde. Und ehrlich: Ganz oft will ich auch einfach nur raus, obwohl mir mein Job viel Spaß macht! Max Eberl sagte dann noch: ‚Ich kann nicht mehr – ich habe keine Wahl.‘ So weit möchte ich es nicht kommen lassen.“

„Was wäre ein erster Schritt für Sie?“

„Schauen Sie, ich bin Vorstand, eine Frau und dann auch noch heulen? Das bedient doch gerade alle Klischees von wegen Heulsuse. Die will ich definitiv auch nicht bedienen! Irgendwie ein Teufelskreis.“

„Wenn Sie sich den Teufelskreis von außen ansehen, wo sehen Sie möglicherweise eine kleine Lücke – eine Idee, die Sie herausführen könnte aus dieser Gedankenschleife?“

„Na ja, Verletzlichkeit zuzugeben ist – so wie in dem Fall – ja kein Zeichen von Schwäche und schlechter Führung. Im Gegenteil – er hat ja jede Menge Mut gebraucht und auch Selbstvertrauen seine Ängste – sein Dilemma, in dem er steckt, mit allen ‚da draußen‘ zu teilen. Aber ich bin eben eine Perfektionistin. Das wurde mir schon in die Wiege gelegt, mein Vater war Finanzamtsvorsteher. Da schließt sich dann der Teufelskreis wieder ganz schnell in meinem Kopf.“

„Ok – einerseits macht Ihnen das Beispiel von Max Eberl Mut – andererseits wollen Sie Ihren Perfektionismus nicht loslassen. Vielleicht ist dazwischen eine kleine Lücke für Sie: Was spricht dafür auch mal nicht perfekt zu sein – vor allem in Situationen, in denen es Ihnen nicht gut geht?“

„Dass ich dann mehr auf mich achte und dadurch wieder mehr Energie bekomme?“

„Was noch?“

„Dass ich mit der so gewonnenen Energie auch wieder leistungsfähiger bin.“

„Was noch?“

Die eiserne Lady darf nicht weinen

„Meine Mitarbeiter werfen mir meinen Perfektionismus auch manchmal vor. Ich habe hier schon den Ruf der ‚eisernen Lady‘. Vielleicht würde es mich etwas menschlicher machen, wenn ich auch mal eine Schwäche zugebe. Ich muss ja nicht gleich heulen.“

„Was wäre für Sie denn eine ‚Schwäche‘?“

„Der Druck, den wir haben ist immens, dazu kommen so viele Unwägbarkeiten – kaum etwas ist mehr mit Sicherheit vorhersagbar. Das nagt auch an meinem Perfektionismus. Corona, die steigenden Logistik- und Energiekosten, Währungsunsicherheit und so vieles mehr. Das bereitet mir oft schlaflose Nächte. Mit dem Druck nicht klarzukommen ist für mich ein Zeichen von Schwäche.“

„Wie fühlt es sich an, wenn Sie diese Gedanken mit Ihren Mitarbeitern teilen würden?“

Meine Klientin denkt nach. Ich lasse die Pause zu. Minuten vergehen. Plötzlich laufen ihr die Tränen. Sie atmet einmal tief durch und sagt: „Die wären zu Beginn wahrscheinlich völlig irritiert und dann … ja, dann würden sie sich freuen.“

„Versetzen Sie sich mal in die Situation – spüren Sie in sich hinein … die Mitarbeiter sind erfreut … Wie genau fühlt sich das für Sie an?“

Wieder eine lange Pause und eine nachdenkliche Antwort: „Zweigeteilt. Einerseits gut. Andererseits frage ich mich, bin ich das? Ist das noch authentisch?“

Authentizität darf wachsen

„Authentizität darf wachsen“, erkläre ich ihr. Unsere Persönlichkeit ist nicht aus Beton. Im Gegenteil: Wir entwickeln uns ständig weiter. Unsere Fähigkeiten, unser Verhalten etc. – unser Leben ist ein stetiger Entwicklungsprozess. Emotionale Intelligenz, die hier notwendige Empathie miteinschließt, kann jeder lernen. Die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit an sich, ist ein natürlicher Prozess. In einer Studie haben Margaret King und Jamie O’Boyle (Center for Cultural Studies & Analysis) nachgewiesen, dass der Mensch sich zwischen 35 und 40 Jahren neu erfindet und dann noch einmal zwischen 55 und 60 Jahren – das erst macht ihn authentisch. Die abgeschlossene, finale Persönlichkeit ist also eine Illusion. Authentizität darf wachsen! Wir können auch authentisch sein, wenn wir uns und unser Verhalten nach außen verändern. Entscheidend ist, dass wir im ursprünglichen Sinne des Wortes – aus dem Griechischen authentikós, „autos“ bedeutet selbst und „ontos“ bedeutet sein – wir selbst sind.

Ich frage noch einmal: „Versetzen Sie sich mal in die Situation – spüren Sie in sich hinein … die Mitarbeiter sind erfreut … Wie genau fühlt sich das für Sie an, wenn Sie den einen Teil nehmen – das ‚gut‘?“

Was jetzt entstand war schon fast eine „kitschige“ Situation. Sie strahlt plötzlich über das ganze Gesicht und gleichzeitig laufen wieder die Tränen – diesmal Freudentränen. „Es fühlt sich scheiß gut an. Ich weiß ja, wie viele auch in meinem Team unter Druck sind und es nicht sagen. Unser Energielevel ist ziemlich weit unten. Wenn ich die Tür zur Verletzlichkeit öffne, bin ich mir sicher, dass viele erst stutzig, dann aber dankbar sein werden.“

„Was ist der erste Schritt, den Sie jetzt tun?“

„Ich werde im nächsten Jour fixe – nicht gleich vor laufender Kamera ;-) – das Thema mit meinem Team besprechen.“

„Wie genau sieht die ‚Besprechung‘ aus?“

„Ich würde kurz meine Gedanken darlegen und dann in die Runde fragen: Wie geht es Euch damit?“

Im Verlauf des Intensivtages haben wir das Meeting – mögliche Fragen, Antworten, Inhalte und auch psychosoziale Aspekte – detailliert vorbereitet und weitere Schritte Verletzlichkeit und damit Empathie zu zeigen, für meine Klientin entwickelt. Auf meine Frage am Schluss: „Was ist Ihre Kernerkenntnis von heute?“ kam eine kurze und klare Antwort: „Verletzlichkeit macht mich stark!“

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