Die soll sich nicht so anstellen

„Sie können es sich nicht vorstellen. Ich gebe wirklich alles für meine Mitarbeiter. Ich motiviere sie nach bestem Wissen und Gewissen. Es gibt Incentivereisen, Mitarbeiterangebote ohne Ende, ein Sportstudio im Firmengebäude, Yogakurse usw. Jetzt haben wir im Unternehmen gerade harte Zeiten und es herrscht extrem hoher Druck am Markt. Meine Mitarbeiter bekommen wirklich alles. Das Einzige, was ich verlange ist, dass sie für die vielen Leistungen, die ich ihnen biete, auch mal schnell liefern und bin überzeugt, dass sie dankbar sein können, so einen Chef zu haben“, Ralf S., Eigentümer einer mittelständischen Private Equity Firma, redete sich in Rage. „Das war auch der Grund, warum ich eine Mitarbeiterbefragung gemacht habe. Das Ergebnis war allerdings vernichtend. Ich kann es immer noch nicht glauben.“

„Ich würde alles tun, damit die Ergebnisse beim nächsten Mal gut sind. Was empfehlen Sie mir?“

„Was könnte ein erster Schritt sein?“, will ich von meinem Klienten wissen.

„Eine Schulung, die den Mitarbeitern nochmal vor Augen führt, was wir als Unternehmen alles für sie tun.“ war seine prompte Antwort. Darauf bat ich ihn, seinen energetischen „Vortrag“, den er kurz vorher gehalten hatte, noch einmal zu wiederholen und wir nahmen ihn auf seinem Smartphone auf. Anschließend stellten wir mehrere Stühle auf, die seine Mitarbeiter symbolisierten und er nahm auf einem der Stühle Platz. „Welcher Mitarbeiter glauben Sie ist besonders unzufrieden,“ fragte ich Ralf S. „Nicole M., eine hoch intelligente Marketingfachfrau, gefühlt ständig am Handy oder beim Yogakurs, den wir übrigens auch anbieten und angeblich mit Burnout-Tendenzen, die ich gar nicht nachvollziehen kann. Wenn ich ihr mal sage, erledigen Sie den Vorgang bitte JETZT. Dann schaut sie mich fast verständnislos an und scheint zu überlegen, wann es in ihren Rhythmus passt. Wenn ich dann sage: Ich meinte jetzt. Dann macht sie es zwar, aber widerwillig. Kollegen von ihr sagen mir jetzt, dass sie mit dem Druck, den ich mache, nicht klarkommt. Ja meine Güte, die haben doch alles – ich motiviere die Menschen nur auf meine Art. Wo ist denn da Druck, wenn man mal etwas schnell oder jetzt direkt machen soll?“

 

„Puh – das ist heftig!“

Auf einen der Stühle schreibt er den Namen der Mitarbeiterin und ich bitte ihn, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen und sich in Nicole M. einzufühlen. Zunächst schaut er mich verständnislos an – lässt sich dann aber im Rahmen seiner empathischen Möglichkeiten auf den Prozess ein. Dann drücke ich auf seinem Smartphone auf „Play“ und spiele seine „energetische“ Nachricht ab, während er in der Rolle von Nicole M. zuhört.

Das Ergebnis verblüfft ihn. „Puh – das ist heftig. Das hätte ich nie gedacht. Meine Stimme klingt fordernd – meine ganze Energie, die ich motivierend meine, trifft Nicole M. hart – das macht tatsächlich Druck. Hätte ich nie gedacht.“

Ralf S. hat einen sogenannten blinden Fleck bei sich entdeckt. Unter blinden Flecken versteht man Persönlichkeitsanteile, die sich der ei­genen Wahr­ne­hmung entziehen, im Umfeld aber sehr gut bekannt sind. Wie bei Ralf S.:­ Nicole M. kannte die schwierigen Seiten von Ralf S. und hatte sie in der Mitarbeiterbefragung sehr klar formuliert. Ralf S. hingegen war überhaupt nicht bewusst, dass er großen Druck ausübte, während er wiederum die schwierigen Seiten seiner Mitarbeiterin sehr gut be­nen­nen konnte.
 

Die Sprengkraft des blinden Flecks

Die Mitarbeiterbefragung und die anschließende Übung im Coaching brachten ans Tageslicht, was typisch für den blinden Fleck ist: Eine relativ große Diskrepanz zwi­schen der Eigen- und der Fremdwahrnehmung des problematischen Verhaltens. Ralf S. war sich sicher, dass er ein großer Motivator ist – Nicole M. hingegen fühlte sich von ihm ständig unter Druck gesetzt. Auf Dauer birgt ein blinder Fleck i.d.R. eine gewisse Sprengkraft, insbe­son­dere wenn es um Mitarbeiterführung geht. Die „Bombe“ explodiert dann oftmals aufgrund der Kluft zwischen der Selbsteinschätzung der Führungskraft und der Einschätzung des relevanten Umfelds.

Das LINC Personality Profiler Fremdbild, das wir am darauffolgenden Intensivtag in den Fokus stellten, ermöglichte ihm dann einen systematischen Abgleich zwischen Selbstbild und Fremdbild verbunden mit einem 360°-Feedbackprozesses bei seinen Führungskräften. Mittels anschaulicher Grafiken konnten wir so Abweichungen sowie Übereinstimmungen zwischen seinem Selbst- und dem Fremdbild seiner engsten Mitarbeiter auf einen Blick darstellen. Im anschließenden Coachingprozess deckten wir auf Basis der Fremdeinschätzung weitere blinde Flecken auf und er erkannte Chancen für seine persönliche Weiterentwicklung, die wir im weiteren Coachingprozess erfolgreich adressieren konnten.

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