Die Macht der Verletzlichkeit: Wie emotionale Offenheit den Team-geist stärkt

Die beiden Geschäftsführer – eine Frau und ein Mann - eines Automobilzulieferers haben einen LINC Personality Profiler Team-Check bei mir gebucht. Sie arbeiten erst seit drei Monaten zusammen. Der Auftrag ist klar definiert: Die beiden möchten sich durch den Coachingprozess gegenseitig besser kennenlernen, um über die Persönlichkeitsdiagnostik und das Coaching ein tieferes Verständnis ihrer individuellen Stärken und Schwächen zu entwickeln. Dieses Wissen soll dabei helfen, ihren Einsatz für die Organisation zu optimieren. Gemeinsam streben sie danach, das Unternehmen erfolgreich zu leiten und möchten ihre Zusammenarbeit und interne Kommunikation verbessern, um als starkes Team zu fungieren.

Die Ausgangslage: Räumliche Distanz und Kommunikationslücken

„Beschreiben Sie Ihre bisherige Zusammenarbeit. Wie gestaltet sich die Kommunikation zwischen Ihnen?“, fragte ich zu Coachingbeginn.

„Wir sind vom Start weg sehr aktiv im operativen Bereich unterwegs. Oft trennen uns unsere unterschiedlichen Standorte, und es kann passieren, dass wir uns eine ganze Woche nicht sehen. Dadurch entstehen Missverständnisse in den Teams und auch zwischen uns“, erläuterte Heiner B.

Valerie S. fügte hinzu: „Wir versuchen, telefonisch in Kontakt zu bleiben, aber ehrlich gesagt kommt der Austausch einfach zu kurz. Wir sind von Beginn an jeder unserer Wege gegangen und tun das im Alltag immer noch.“

Herausforderungen bei der digitalen Vernetzung erkennen

„Was wäre ein möglicher erster Schritt? Was könnte Ihnen helfen, besser zu kommunizieren und dadurch Ihr Ziel zu erreichen, als starkes Team zu fungieren?“, leitete ich die Diskussion in eine lösungsorientierte Richtung.

„Absolut ideal wäre, wenn wir uns digital in der Kommunikation erfolgreich vernetzen würden. Zum Beispiel über OneNote. So könnten wir Informationen effektiver teilen. Doch stehen wir vor dem Problem, dass es im Unternehmen nur eine Probelizenz für Microsoft Office gibt“, erklärte Heiner B. „Hinzu kommt, dass ich gar kein OneNote auf dem Handy habe. Ich schreibe lieber alles noch auf Papier“, ergänzt Valerie S.

Das stellte einen greifbaren Anfangspunkt für mich dar. Im Verlauf des Intensivtags erarbeiteten die beiden die Einführung regelmäßiger virtueller Meetings, um einen Raum für den Austausch und die Diskussion aktueller Themen zu schaffen. Diese virtuellen Treffen wollen sie durch festgelegte Kommunikationsregeln eng begleiten mit dem Ziel, eine effiziente Plattform zu haben, die beiden Geschäftsführern gleichermaßen die Möglichkeit gibt, ihre Gedanken zu teilen und Missverständnisse auf ein Minimum zu reduzieren. 

Darüber hinaus entwickelten wir gemeinsam einen digitalen Kommunikationsleitfaden. Dieser umfasst klare Richtlinien, z.B. bezüglich ihrer bevorzugten Kommunikationskanäle, ihrer  Verfügbarkeit und der erwarteten Antwortzeiten. Beide waren sich schnell einig, dass ein solcher Leitfaden nicht nur die Kommunikation zwischen ihnen verbessern würde, sondern auch als Vorbild für das gesamte Unternehmen dienen könnte. Ein transparentes und effektives Kommunikationssystem würde die Unternehmenskultur stärken und zu einem reibungsloseren Ablauf beitragen. 

Doch vorher galt es noch eine Herausforderung zu lösen:„Wie könnten Sie die noch bestehenden Hindernisse überwinden, um Ihre Kommunikation zu verbessern?“, fragte ich, um sie zur Eigeninitiative zu ermutigen.

Kleine, machbare Schritte führen zum Erfolg

Spontan gibt Valerie S. ihrem Kollegen das Handy und er installiert ihr die OneNote-App. Der erste Schritt ist getan. „Es liegt auf der Hand – ich kümmere mich um die Lizenz“, entschied Heiner B. darauf prompt. „Andere Geschäftsführer in unserem Konzern haben sich die Lizenz auch eigenständig besorgt. Das sollte funktionieren.“

„Bis wann setzen Sie Ihr Vorhaben um?“, will ich von den beiden wissen. Die Erfahrung zeigt, dass der Coachingerfolg signifikant größer ist, wenn Klienten Vorhaben, die sie im Prozess entwickeln, direkt in die Praxis – in dem Fall den Terminkalender – umsetzen. Wenige Minuten später steht ein Termin in ihrem Kalender. Zudem sind die Meetinginhalte klar definiert: Einführung der OneNote-Kommunikation, Festlegen einer gemeinsamen Ordnerstruktur und Vereinbaren der Abläufe bzw. Inhalte.

Auf den ersten Blick mag das ein banales Ergebnis sein – es hat aber eine große Wirkung. Wie bei vielen ‚Hacks‘ im Coaching liegt der Erfolg in der Umsetzung von kleinen, wirksamen Schritten. Ähnlich wie bei der Marathonläuferin Joan Benoit Samuelson: Sie war die allererste Olympiasiegerin im Marathonlauf der Frauen. Wenn sie lief, scannte Samuelson die Läuferinnen vor sich. Sie wählte eine Läuferin aus – zum Beispiel eine in rosa Shorts – und über-holte erst sie. Dann identifizierte sie die Schuh-Marke der nächsten Läuferin vor ihr und überholte auch diese. Sie nahm ein Ziel, das weit entfernt schien – 42 km, um genau zu sein; also ein Ziel, das für die meisten von uns sicher unmöglich zu erreichen scheint – und zerlegte es in überschaubare Teile. Die OneNote-Einführung stellt einen dieser kleinen Schritte dar und funktionierte nach demselben Prinzip.

Tiefere Einblicke in das Gegenüber gewinnen

Der nächste Schritt galt dem besseren Kennenlernen der Persönlichkeit. Die Geschäftsführer tauschten sich intensiv über ihre unterschiedlichen Charakter-Facetten aus. Der Blick in den LINC Personality Profiler zeigte u.a. auf, dass Valerie S. eine sehr hohe Dominanz aufweist und gleichzeitig eine hohe Innenorientierung. Das heißt: Sie macht vieles mit sich selbst aus und kommuniziert vergleichsweise selten. Heiner B. auf der anderen Seite ist eher extrovertiert, verbunden mit einer gemäßigten Selbstsicherheit. Die Konsequenz: Er hat sich bisher schlichtweg nicht getraut, nachzufragen oder emotionale Themen anzusprechen, zum Bei-spiel ganz simpel wie der Tag gelaufen ist.

„Wie könnte es Ihnen nun gelingen, sich regelmäßig auszutauschen – abgesehen von One-Note als schriftlicher Kommunikationsplattform, also persönlich?“, frage ich nach.

„Mögliche Probleme zwischen uns und in unserer Arbeit möchte ich sofort und gleich an-sprechen können. Um das Vertrauen dafür zu gewinnen, brauchen wir den regelmäßigen Austausch. Wenn der Tag nicht gut lief, sollten wir gerne darüber sprechen, zum Beispiel übers Telefon. Die Themen selbst sollten natürlich unter uns bleiben. Wenn ich mit jemandem darüber sprechen kann, dass der Tag fürchterlich war, hilft mir das“, zeigte sich Valerie S. verletzlich. 
Heiner B. reagierte gerührt: „Das kannst du jederzeit tun. Das ist doch unser Ziel: uns gegen-seitig zu unterstützen. Das ist für mich ein riesiger Schritt zu noch mehr Vertrauen zwischen uns, dass du dich so emotional zeigst, danke dafür!“

Vertrauen als Entwicklungsfeld

„Wie können Sie dieses Vertrauen nun nachhaltig etablieren?“ hakte ich nach. 

„Indem wir eine offene Kommunikationskultur etablieren. Nicht nur jetzt hier als Vorhaben, sondern ganz konkret. Wir setzen uns einen Rahmen“, schlug Valerie S. vor. 

„Wie könnten Sie eine regelmäßige Praxis – also den erwähnten Rahmen ¬– etablieren, der es Ihnen ermöglicht, trotz Ihrer seltenen persönlichen Treffen eine fortlaufende und offene Kommunikation aufrechtzuerhalten und somit Ihr gegenseitiges Verständnis zu vertiefen?“, forderte ich die zwei Geschäftsführer auf, konkrete Ideen zu formulieren.

Folgende drei Aspekte kamen bei dieser Diskussion heraus:

1. Regelmäßige virtuelle Stand-ups:
Wir etablieren ab sofort kurze, tägliche Video-Calls zu festen Zeiten, in denen wir uns aus-tauschen. Diese Treffen sollten einen strukturierten Rahmen haben, bei dem jeder kurz sei-ne aktuellen Aufgaben, Herausforderungen und Erfolge bzw. Misserfolge teilt. Das schafft Routine, eine regelmäßige Verbindung und damit langfristig Vertrauen, selbst wenn physische Treffen selten sind.

2. Gemeinsames digitales Tagebuch:
Wir nutzen aktiv OneNote, wo jeder tägliche bzw. wöchentliche Updates, Gedanken und Ideen festhalten kann. Dies ermöglicht einen stetigen Informationsfluss und gibt Einblick in die Arbeit und Überlegungen des anderen, auch wenn mal kein direkter Austausch möglich ist.

3. Monatliche 'Tiefgang-Sitzungen':
Neben den täglichen Kurzbesprechungen planen wir ab sofort monatliche 3-stündige Meetings ein, in denen wir Zeit haben, tiefergehende Themen zu besprechen. Hier könnten strategische Entscheidungen, Feedback und persönliche Entwicklungspläne im Fokus stehen, was zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens beiträgt.

Emotionale Wendepunkte im Coaching: Wie Verletzlichkeit den Teamgeist fördert

Durch den bewussten und strategischen Einsatz von Kommunikationstools und regelmäßigen Treffen, die sowohl den täglichen Austausch als auch den Tiefgang in der Diskussion ermöglichen, haben Heiner B. und Valerie S. eine solide Grundlage für eine erfolgreiche und harmonische Zusammenarbeit geschaffen. Der Schlüssel für den Erfolg war, dass Valerie S. sich verletzlich gezeigt hat. Das war ein sehr emotionaler Moment und der Wendepunkt im Coaching. Der Coachingtag war ein bedeutender Schritt hin zu einem stärkeren, resilienteren Team, das seitdem in der Lage ist, auch in Zeiten räumlicher Trennung und operativer Herausforderungen effektiv und einfühlsam zu agieren und zu kommunizieren.