Das digitale Desaster! Wie die Unfähigkeit zu kommunizieren ein Unternehmen fast lahmlegt

„Ich möchte meine Bedenken zu unserem aktuellen digitalen Setup mit Ihnen teilen. Das ist ein digitales Desaster! Wir haben vor drei Jahren begonnen ein neues ERP-System aufzubauen. Go-life war Ende 2019 geplant. Seitdem gibt es eine ständige Verschiebung von Frühjahr 2020 auf jetzt Ende März 2021. Doch auch daran glaube ich nicht mehr. Im driver-seat sitzt unser COO. Hinzu kommt: Eine Kommunikation im Team findet nicht statt. Aber auch ich als Eigentümer spreche das Problem nicht an. Ich sage mir, das ist ein mega wichtiges Projekt, da traue ich mich nicht, dem COO wirklich viel Druck zu machen. Wenn er uns abspringt, haben wir ein Problem. Aktuell habe ich aber klar das Gefühl, so wie die Abteilung aufgestellt ist, ist das langfristig die falsche Option. Ich traue mich aber nicht, ihn anzusprechen – er geht dann immer gleich hoch wie ein ‚HB-Männchen‘ und es kommt zum Streit. Ich werde dann auch sehr emotional – schließlich geht es um meine Firma!“

Diese Zeilen standen im Precoaching, das mir der Eigentümer einer mittelständischen Firma (2.500 Mitarbeiter) im Vorfeld seines Intensiv-Sparringtages zusandte.

Auszüge aus unserer Coaching-Arbeit: Klare Sicht schaffen & Gefühle zulassen

Zunächst ging es darum, klare Sicht zu schaffen: Auf dem großen Konferenztisch in meinem Coachingraum stellten wir dazu die unterschiedlichen Stakeholder auf, die in den Konflikt involviert sind. Darüber hinaus visualisierten wir auf dem digitalen Flipchart über ein Organigramm die Konsequenzen, die sich aus dem ‚ständigen Verschieben‘ des ERP-Projektes ergeben. Ein transparenter Blick auf die Dinge erhöht automatisch die Effektivität im Umgang mit der Situation. Die Prozesse bewusst machen und Klarheit schaffen ist die Voraussetzung dafür, schnelle und nachhaltige Lösungen zu finden.

Die Klarheit wirkte wie eine Befreiung für meinen Klienten. Er hatte sich bislang schlichtweg nicht die Zeit dazu genommen – anders jetzt im Sparring mit mir.

„Jetzt habe ich zwar eine klare Sicht auf die Situation – der Konflikt jedoch bleibt und tatsächlich traue ich mich nicht, ihn anzusprechen.“ Für die Ansprechbarkeit von Konflikten gibt es im Coaching das Schlüsselkonzept der vier Quadranten. Gerade in Gesprächen, die emotional stark belastet sind, in denen es um unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse geht. Darüber gelingt es sicherzustellen, dass man sich in Konfliktsituationen zwar gegenseitig sagt, was man zu sagen hat – aber nicht verletzt.

Doch im Alltag – auch meines Klienten – sieht das meist anders aus. Zunächst schildern die Menschen was sie wahrnehmen und wie – aus ihrer Sicht – die Faktenlage ist und präsentieren dann sofort ihre Lösung. Dadurch wird in Gesprächen eine ‚Abkürzung‘ genommen, denn die Unterhaltung springt von Wahrnehmung und Fakten direkt zur Lösung. Eine wirkliche Entschärfung des Konflikts oder gar die Problemlösung wird dadurch schwierig, da die (oft unterschiedlichen) Gefühle, Interessen und Bedürfnisse unter den Tisch fallen. Die Konfliktparteien reagieren dann emotional bzw. versuchen die Emotionen zu unterdrücken. Das führt dazu, dass die Gesprächspartner in einer Angriffs- bzw. Verteidigungshaltung sind oder erstarren und somit eine nachhaltige oder gar innovative Problemlösung nicht mehr möglich ist.

„Mit dem ‚Erstarren‘ treffen Sie den Nagel auf den Kopf,“ war die spontane Reaktion meines Klienten, „wie gesagt: ich traue mich gar nicht mehr, etwas zu sagen. Doch wie komme ich da raus?“

Jedes Gespräch hat eine Vorderbühne: alles, was man ‚offensichtlich‘, hört, sieht und wahrnimmt (Gestik, Mimik, Inhalte etc.) und eine Hinterbühne. Das sind die Geschichten und Gefühle der Person, mit der man redet, die sie nicht erzählt, die man aber (er)spüren kann. In der ‚normalen‘ Kommunikation agieren wir nur über die Vorderbühne. Die Hinterbühne brodelt dagegen still vor sich hin oder verschafft sich lautstark Gehör, indem man sein Gegenüber z. B. anbrüllt oder verletzt. Das 4-Quadranten-Modell (4QM) bezieht in die Kommunikation sowohl die Vorder- als auch die Hinterbühne mit ein, indem es die Hinterbühne nach vorne holt. Klingt kompliziert? Ist einfach:

Starten – wie gewohnt – mit der Vorderbühne:

  1. Schildern der Wahrnehmungen und Fakten: Was nehme ich wahr? Um welche messbaren Fakten geht es: Was, wer, wie, wann?

Anders als in ‚normalen Konfliktgesprächen‘, die auch mal gerne eskalieren, fügt das 4-Quadranten-Modell zwei weitere Kommunikationsebenen auf der Hinterbühne hinzu:

  1. Gefühle benennen: Was fühle ich? Was fühlst Du?
  2. Interessen und Bedürfnisse offenlegen: Was will ich? Was ist mir wichtig?

    Dann erst folgt in der Kommunikation – auf der Vorderbühne – die:
     
  3. Lösung: Welche Lösung gibt es in dieser Situation?

In der Praxis sieht das so aus – am Beispiel des anstehenden Konfliktgesprächs mit dem COO:

  1. Beobachtungen: Herr Müller, ich beobachte nun schon seit einem Jahr … immer wieder wird das Projekt verschoben … die Konsequenzen für das Unternehmen sind … (Inhalte analog zu den Ergebnissen – klare Sicht – aus dem ersten Teil der Coachingsitzung)
  2. Gefühle: Das bereitet mir als Unternehmer größte Sorgen/schlaflose Nächte/macht mich nervös … das irritiert mich … das bringt mich unter Druck … das enttäuscht mich … etc... (je nach individueller Gefühlslage) und ich sehe, dass auch Sie zunehmend unter Druck sind …
  3. Interessen/Bedürfnisse: Mir ist Klarheit/Verlässlichkeit/Berechenbarkeit/Vertrauen/Planbarkeit/Offenheit in der Kommunikation wichtig … (je nach individuellem Bedürfnis/Interessenlage).
  4. Lösung: Deshalb erwarte ich von Ihnen … bitte ich Sie … möchte ich … schlage ich vor, dass wir … (folgt die individuelle Lösung).

Im Sparring simulierte mein Klient mehrfach die Gesprächssituation bis er das 4QM immer flüssiger formulieren konnte. Wichtig ist, dass v.a. in der Konflikt-Kommunikation ausschließlich Ich-Botschaften statt Du-Botschaften verwendet werden: „Ich habe schlaflose Nächte statt: Sie bereiten mir schlaflose Nächte.“ Du-Botschaften führen zu Grenzverletzungen – Ich-Botschaften zu Nachdenklichkeit beim Gegenüber.

Ergebnis: Eine neue Kommunikationskultur - erfolgreiches Führen schwieriger Gespräche

Das 4QM half ihm dabei, seine Bedürfnisse klar zu formulieren, ohne den COO anzugreifen. Diese Fähigkeit nutzte der Klient ab sofort auch in anderen Situationen – insbesondere im Umgang mit Konflikten und bei der erfolgreichen Führung schwieriger Gespräche. Die Anwendung der vier Schritte stellt sicher, dass seine Kommunikation sehr transparent und klar und gleichzeitig in einer wertschätzenden und einfühlsamen Weise erfolgt. Das 4QM ermöglicht die rationale Einbindung von Gefühlen und Bedürfnissen in die Kommunikation. Das ist keine angeborene Eigenschaft, sondern eine erlernbare Fähigkeit, die mit Training und Übung entwickelt werden kann. Durch seine persönliche Weiterentwicklung etablierte der Eigentümer zudem eine neue Kommunikationskultur im Unternehmen und schuf einen Rahmen, in dem seine Mitarbeiter argumentieren und konstruktiv streiten lernten – unabhängig von der organisatorischen Ebene, auf der die Diskussion stattfindet.

In einem weiteren Coachingprozess entwickelten wir eine neue Debattenkultur für das Unternehmen und brachten so den Umgang mit Diskussionen und Auseinandersetzungen im Unternehmen auf die nächste Ebene.